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„Scheitern ist ein Komödienstoff. Man muss ihn nur ernst nehmen.“ - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

„Scheitern ist ein Komödienstoff. Man muss ihn nur ernst nehmen.“

Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito im Gespräch mit Sebastian Hanusa

Sebastian Hanusa: Was stand am Anfang der Arbeit an Ihrem Regiekonzept? Gibt es so etwas wie eine These oder Fragestellung, mit der Sie an das Stück herangegangen sind?

Anna Viebrock: Man muss so ein Stück erst einmal richtig kennenlernen, und versucht zunächst, den ganzen Ballast vorangegangener Inszenierungen zu ignorieren, um mit einem freien Blick auf das Stück selbst zu schauen. Dabei half uns Paul Bekkers in den 1920er Jahren erschienenes Buch „Richard Wagner. Das Leben im Werke“. Und davon ausgehend der Gedanke, dass es in den MEISTERSINGERN erst einmal um das Singen geht, genauer um den Vortrag des zu Singenden und um dessen Darstellung und damit eigentlich um das Theater.

Jossi Wieler: Das hat sich im Verlauf der Arbeit bestätigt: Das zentrale Thema des Stückes ist das Singen und damit die Welt der Musik. Und diesem Aspekt wollen wir uns deutlicher öffnen, als man zunächst vermuten würde.

Sebastian Hanusa: Wie wollen Sie das machen, wo spielt das Stück in Ihrer Inszenierung?

Sergio Morabito: Wagner zeigt uns in den MEISTERSINGERN eine Welt, die sich der Musik verschrieben hat, und in der die Musik die Figuren ebenso miteinander verbindet als voneinander trennt. Daher entstand die Idee, das Stück in einer Musikhochschule spielen zu lassen, in Dr. Pogners Konservatorium. Dieser ist Gründer, Direktor und Mäzen in einer Person. Und nun hat er entschieden, sein Institut der öffentlichen Hand zu übergeben und in eine Stiftung zu überführen. Er verbindet dies lediglich mit der Bedingung, dass sein Nachfolger ein „Meister“ sein muss – und seine Tochter heiratet. Richtig „loszulassen" vermag er also offenbar nicht.

Jossi Wieler: Zugleich ist es an diesem Institut wie an jeder Musikhochschule: Professionelle Musikausübung ist grundsätzlich Hochleistungssport. Und das zeigen wir auch. Es gibt die Meister, die Professoren. Und es gibt die „Lehrbuben“, also die Studierenden, die Meisterschülerinnen und Meisterschüler, die in dieser Institution unter hohem Druck stehen. Man muss – auch über das „Meistersingen“ hinaus – nach sehr strengen Regeln funktionieren. Die Probleme und Krisen, die die Figuren antreiben, sind daher allen Mitwirkenden bekannt.

Anna Viebrock: Es geht darum, wie man selbst Meister wird, mit allen Stadien des Lernens, des Niedergemacht-Werdens, des Vernichtet-Werdens, des Gelobt-Werdens, die dazu gehören. Aber dann geht es auch um diesen Lehrkörper. Was sind diese Professoren für Menschen und wie gehen sie miteinander um? Zu einer weiteren wichtigen Inspirationsquelle wurde „Die Klavierspielerin“, sowohl der Roman von Jelinek als auch die Verfilmung durch Haneke. Die Beziehung der Dozentin Magdalena zum Meisterschüler David haben wir daran angelehnt. Davids Meister Hans Sachs ist ein Außenseiter, ein wenig der „bunte Hund“, der die Gassenhauer komponiert. Er ist Schlagzeuglehrer und Musiktherapeut, der sich um das Körperliche kümmert, wenn es darum geht, die jungen Menschen zu fördern und zu prägen. Wobei dann auch gleich das Thema der Übergriffigkeit mitschwingt.

Sergio Morabito: Dann taucht plötzlich Walther von Stolzing auf. Er ist bisher noch nie durch besondere künstlerische Begabung oder Interessen aufgefallen, hat sich aber unsterblich in Pogners Tochter Eva verliebt und versucht jetzt im ersten Anlauf die Hürde des Meisterexamens zu nehmen und sich aus dem Stand in diese Konservatoriumswelt zu katapultieren.

Sebastian Hanusa: Nur ist Walther ja nicht als einziger in Eva verliebt, womit die Handlung des Stückes überhaupt erst in Schwung kommt …

Jossi Wieler: In der Tat. Es gibt noch Hans Sachs. Er versucht dieses Institut zu reformieren und zu verändern. Aber auch er verheddert sich emotional, da er mit der Tochter seines Direktors eine heimliche Liebschaft pflegt. Und auch Professor Beckmesser macht sich Hoffnungen auf Eva wie auf die Pogner-Nachfolge. Es gibt also drei Konkurrenten um Evas Liebe, was auch bei ihr zu sehr ambivalenten, emotionalen Konflikten führt.

Sebastian Hanusa: Die Welt einer Musikhochschule ist Ihnen, wie auch den mitwirkenden Sänger*innen, mehr als vertraut. Doch wie ermöglichen Sie den Nicht-Musiker*innen im Publikum den Zugang zu dieser sehr speziellen Welt der Musikhochschule?

Sergio Morabito: Das Schöne ist ja, dass dies im Stück selber thematisiert wird durch den Außenseiter Walther von Stolzing. Er kommt, wie jeder Zuschauer, unvorbereitet in eine Welt, die nach für ihn undurchschaubaren Regeln funktioniert. Und die Geschichte kann dadurch aus dieser Fremdperspektive, diesem Staunen, der Orientierungssuche und dem Wiedererkennen heraus erzählt werden.

Sebastian Hanusa: In Ihren Bühnenbildern zitieren Sie, Frau Viebrock oft real existierende Räume. Gilt das auch für die Bühne der MEISTERSINGER?

Anna Viebrock: Als wir anfingen, an dem Projekt zu arbeiten, wollte ich mir ganz viele Musikhochschulen anschauen. Dann kam der Lockdown dazwischen und man kam nirgends hin. Aber ich erinnerte mich an Fotos aus der Münchener Musikhochschule, die sich heute im früheren „Führerbau“ befindet, einem Repräsentationsbau der NSDAP, der zwischen 1933 und 1937 gebaut wurde. Und daher habe ich an das Thema kontaminierter Räume und böser Orte anknüpfen können, das mich sehr interessiert. Ob eine Holzvertäfelung aus München, die ich im Bühnenbild zitiere, etwas von diesem furchterregenden, klaustrophobischen, beängstigenden Ort vermittelt – oder nur für denjenigen, der um seine Geschichte weiß? Wobei mein Bühnenraum zugleich ein Hybrid ist, durch die dort eingebauten, modernen Lehrerzimmern, die es so in München nicht gibt.

Sebastian Hanusa: In Wagners Text wird sehr viel vom „Wahn“ bzw. dem „Wähnen“ gesprochen, das in seinem Verständnis im Gegensatz zur „Wirklichkeit“ steht und diese zu überschreiten und zu überwinden trachtet. Was heißt das konkret für eine Inszenierung, die zunächst einmal sehr realistische Koordinaten setzt?

Sergio Morabito: Wir haben in der Vorbereitung sehr viel über Kafka gesprochen und darüber, dass man hier eine Welt erlebt, die nach undurchschaubaren Spielregeln funktioniert. Aber eben auch das Surreale, das Unheimliche und Irreale umfasst, das dann speziell im zweiten Akt durchbricht, in der Johannisnacht, die ja zugleich Shakespeares „Mittsommernachtstraum“ zitiert.

Anna Viebrock: Was dort passiert, nenne ich das Morphen meines Raumes. Man ist wie nachts eingesperrt in der Musikhochschule. Und auf einmal erscheint alles verändert und man bekommt den Eindruck, in einer Art kafkaeskem Labyrinth gefangen zu sein. Mit Gängen, die ins Nichts führen und Türen, hinter denen es einfach schwarz ist. Dr. Pogners Institut erscheint auf einmal wie ein seltsamer Traum. Und das gilt auch für die Zeit. Das Stück spielt ja ziemlich genau innerhalb von 24 Stunden. Auch mit dieser Echtzeit versuchen wir zu spielen und sie in die Schwebe zu bringen. Ich finde es ja immer schöner, aus sehr konkreten Elementen etwas Irrationales zu bauen. Das hat viel damit zu tun, was in dieser Nacht passiert. Und irgendwie meint der Wahn bei Wagner dann doch auch einfach das Theater. Dass das Theater funktioniert, dass dort etwas überspringt.

Sebastian Hanusa: Die MEISTERSINGER sind laut Untertitel eine Komödie. Doch ist es wirklich ein heiteres, oder gar lustiges Stück?

Jossi Wieler: Wagners Libretto ist dramaturgisch sehr gut gebaut und jede Figur ist fein ziseliert. Es gibt unglaublich viel Material für uns als Regisseure, und bis in kleinste Reaktionen sind die Figuren ausformuliert. Das wirkt in seiner Lakonik automatisch komisch. Durch den Ernst der Situation und natürlich auch durch die Musik.

Sergio Morabito: Zugleich ist Wagners Humor nicht zu trauen – er hat überwiegend mit Schadenfreude zu tun. Aber auch damit, dass Dinge außer Kontrolle geraten, nicht nur in der Johannisnacht sondern vor allem auch im Showdown am Ende, wo der Lack der Zivilisation plötzlich brüchig wird. Natürlich bringt unsere Inszenierung aber noch eine andere artistische Ebene ins Spiel, die wir uns bemühen, jenseits des monumentalen Anspruchs Wagners freizusetzen: Wir arbeiten mit den Sängerinnen und Sängern an der großmöglichsten spielerischen Leichtigkeit und Geistesgegenwart ihres Spiels. Dass schafft automatisch eine Heiterkeit, die umso größer sein kann, je abgründiger und schwerwiegender die verhandelten Inhalte sind.

Jossi Wieler: Es geht ums Scheitern. Vieles soll gelingen, bis hin zum „Meistersingen“. Doch Walther von Stolzing scheitert daran, und selbst Beckmesser tut das. Sachs scheitert an seiner Liebe zu Eva, David an seiner Liebe zu Magdalena. Auf vielen Ebenen wird gescheitert. Und dieses Scheitern ist ein Komödienstoff. Man muss ihn nur ernst nehmen. Denn wenn man von außen draufschaut, ist es immer komisch. Und zugleich hat man mit Wagner und seiner nationalistischen und chauvinistischen Demagogie zu tun, die sich auch in einer Figur wie Hans Sachs wiederfindet. Dieser ist ein Reformer mit einer freiheitlicheren Gesinnung, der etwas verändern möchte in der Gesellschaft – oder zumindest in dieser Musikakademie. Und dann wird er zunehmend zum Ideologen seiner eigenen Lehre, der vom eigenen Pathos eingeholt und geradezu verschluckt wird. Auch das wollen wir erzählen, im Wissen um die Rezeption dieses Werks.

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