Kein Interpret der klassischen Musik wird bis heute so oft als „Jahrhundertsänger“ bezeichnet wie Dietrich Fischer-Dieskau. Ein Begriff, der in einem Wort das Größte umfasst, was ein Künstler überhaupt erreichen kann: die Erhöhung seines persönlichen Interpretationsstils zu einer Maßstäblichkeit auch über seinen Tod hinaus. Vergleichbares gelang wohl nur Maria Callas, deren Wirkungsradius jedoch nahezu exklusiv auf die italienische Oper des 19. Jahrhunderts beschränkt blieb, während der zwei Jahre jüngere Dietrich Fischer-Dieskau seine künstlerische Persönlichkeit in einer nach wie vor staunenerregenden Repertoirevielfalt zur Geltung brachte: Von der Bach-Kantate über die romantische Oper bis zum zeitgenössischen Lied zeugen heute noch ungefähr 400 Schallplattenaufnahmen von dem universellen Geltungsanspruch von Fischer-Dieskaus Kunst.

Dass ein derart omnipräsentes Künstlertum auch Widerspruch hervorruft, gehört zur Natur der Sache. Die Kritik, der sich Dietrich Fischer-Dieskau vornehmlich gegen Ende seines langen Wirkens ausgesetzt sah, erfolgte nicht zuletzt durch eine nachwachsende Künstlergeneration, die gegen diesen Universalitätsanspruch einen differenzierteren, an den Erkenntnissen historischer Aufführungspraxis geschulten Stilbegriff setzte. Herbert von Karajan, der in den sechziger und siebziger Jahren ähnlich verehrt wurde wie Fischer-Dieskau, erging es mit seinen Interpretationen barocker und klassischer Musik nicht anders.

Doch der Begriff des „Jahrhundertsängers“ reicht eben auch über die Abgrenzungsbewegung der Folgegeneration hinaus. Jetzt, nahezu achtzig Jahre, nachdem der junge Bariton mit ersten Liederabenden und mit seinen Auftritten als Posa in DON CARLO und Wolfram in TANNHÄUSER an der damaligen Städtischen Oper Charlottenburg seine Weltkarriere begann, ist die Universalität seines Schaffens wieder Vorbild und ist auch eine unverkrampftere Würdigung erneut möglich. Das hat auch ein Symposion gezeigt, das die Deutsche Oper Berlin vor drei Jahren zu Ehren ihres langjährigen Ensemblemitglieds aus Anlass von dessen 10. Todestag ausrichtete und das auch die Nachwirkungen seines Schaffens in den Fokus nahm. Mit wachsendem zeitlichen Abstand ist für junge Sänger der Erwartungsdruck, das große Vorbild zu reproduzieren, einer großen Chance gewichen: die stets an der Balance von Wortsinn und musikalischer Linie orientierten, jedes Detail berücksichtigenden Interpretationen Dietrich Fischer-Dieskaus als Ausgangspunkt für eine eigene Auseinandersetzung zu nutzen. Genau dies versuchte Fischer-Dieskau auch in seinem umfangreichen pädagogischen Wirken zu vermitteln. Die beachtliche Zahl von Schülern, die heute als gefeierte Lied- und Opernsänger jeder auf seine Weise mit diesem Erbe umgehen, ohne es zu verleugnen, ist vermutlich die schönste Würdigung, die sich Dietrich Fischer-Dieskau selbst gewünscht hätte.