Kurz vor der Revolution - Deutsche Oper Berlin
Kurz vor der Revolution
Wie klang Arnold Schönbergs Musik, bevor er die Atonalität erfand? So wie in den »Gurreliedern«, seinem letzten, spätromantischen Werk. Sir Donald Runnicles über die Klangwelt vor der Musikmoderne
In so kurzem zeitlichem Abstand zwei Werke der Wiener Moderne dirigieren zu dürfen, die obendrein voller Leidenschaft auf die Musik von Wagner, Strauss und Mahler reagieren, ist für mich eine große Freude: Erich Wolfgang Korngolds VIOLANTA ist die Oper eines Achtzehnjährigen, der die Klangwelt eines Richard Strauss weiterentwickelt, ohne an der Tonalität zu zweifeln. Und auch Schönbergs Monumentalwerk der »Gurrelieder« ist noch komplett in der Tonalität verankert. Es ist faszinierend, wie meisterhaft Schönberg diese harmonische Sprache beherrscht – und wie großartig das Stück für das von ihm verlangte Riesenorchester instrumentiert ist. Damit steht er in der Tradition von Richard Wagner, schafft aber trotzdem seine eigene Klangwelt.
Schönberg hat an den »Gurreliedern« zwischen 1900 und 1903 gearbeitet, sie dann aber erst nach einer längeren Pause zwischen 1910 und 1911 fertiggestellt. In der Zwischenzeit war er den Schritt in die Atonalität gegangen und das mit dem Selbstverständnis eines »konservativen Revolutionärs«, wie er sich nannte, denn das radikal Neue war bei ihm nicht Selbstzweck, sondern geschah im Bewusstsein von und in einer Linie mit Bach, Beethoven, Brahms und dessen »entwickelnder Variation«. Die Atonalität war für Schönberg nur ein nächster, notwendig zu vollziehender Schritt.
Damit laden die »Gurrelieder« zu dem Gedankenspiel ein, wie sich Schönbergs Musik wohl ohne den Bruch mit der Tonalität entwickelt hätte. Wobei man in diesem Werk auch bereits den Schönberg der Zukunft durchhört – etwa im Melodram kurz vor Ende. Hier nutzt er die von ihm entwickelte Technik des Sprechgesangs, die er wenig später etwa in seinem »Pierrot lunaire« einsetzen wird. Direkt darauf folgt dann aber das große Chorfinale. Neu und Alt stehen nebeneinander. Schönbergs Meisterschaft besteht darin, beides organisch miteinander zu verbinden. So verschmilzt er insgesamt in den »Gurreliedern« die verschiedensten Genres miteinander: Sind sie ein Liederzyklus, ein Oratorium, eine Oper, eine Kammersinfonie? Letztlich findet sich von allem etwas. Und in der Summe dieser Teile geht das Stück in origineller Weise weit darüber hinaus.
Die »Gurrelieder« erzählen eine Liebesgeschichte, damit sind sie auch großes Musikdrama im Geist des Fin de siècle. Es geht um die bedingungslose Liebe König Waldemars zu der jungen Tove, seiner »Waldtaube«, die von seiner eifersüchtigen Ehefrau ermordet wird. Waldemar stößt einen Fluch gegen Gott aus und wird dazu verdammt, nach seinem Tod ruhelos mit seinen Männern in einer Geisterschar umherzuziehen. Die Dramatik dieser Geschichte erzeugt Schönberg mit einem Riesenorchester, zwei großen Chören, sechs Solisten, das macht die »Gurrelieder« zu einem der größten Stücke im Konzertrepertoire überhaupt.
Wenn man als Dirigent Opern wie Berlioz’ LES TROYENS, den SAINT FRANÇOIS D’ASSISE von Messiaen oder den zweiten Aufzug der GÖTTERDÄMMERUNG mit den dort entfesselten Klangwelten geleitet hat, relativiert sich die Herausforderung jedoch ein wenig. Hier wie dort gibt es herrliche, sehr leise Passagen, die ganz zart und durchsichtig klingen müssen.
Kennengelernt habe ich die »Gurrelieder« schon recht früh. In jungen Jahren habe ich mir im Wagner-Fieber alles an Aufnahmen besorgt, was mit dessen Welt im weitesten Sinne zu tun hatte. Dann habe ich in Wien eine grandiose Aufführung mit Claudio Abbado erlebt, die mich sehr beeindruckte. Ich selber habe die »Gurrelieder« 2002 zuerst dirigiert, bei den BBC Proms, dann wieder 2016 beim Edinburgh Festival. Und nun bin ich sehr dankbar, dass ich dieses Stück in meiner letzten Spielzeit als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin in der Philharmonie dirigieren werde. Es ist mit seiner Dramatik wie gemacht für eine Aufführung durch ein Opernhaus. Vor allem, wenn dieses Haus über so großartige Kräfte verfügt wie die Deutsche Oper Berlin mit ihrem Ensemble, dem Chor (der durch den Rundfunkchor Berlin verstärkt wird) und einem Orchester, in dessen DNA das Repertoire der deutschen Spätromantik auch durch unsere jahrelange gemeinsame Arbeit tief verankert ist. Ich bin überaus glücklich, diese Arbeit jetzt mit den »Gurreliedern« krönen zu dürfen.