Olesya Golovneva … Mein Seelenort: Der Wald vor Wien - Deutsche Oper Berlin
Olesya Golovneva … Mein Seelenort: Der Wald vor Wien
Im Wald denkt Olesya Golovneva über ihre Rolle der Els in DER SCHATZGRÄBER nach. Und findet dabei auchHexen-Röhrlinge
Mein Seelenort ist der Wald in der Nähe meines Hauses. Ich lebe seit zwölf Jahren mit meiner Familie in Pressbaum, rund fünfzehn Kilometer westlich von Wien. Früher wohnten wir in der Stadt, im zweiten Bezirk, aber mir fehlten die Bäume, die Natur. Wenn ich jetzt aus dem Fenster blicke, sehe ich weite Hügel und eine vierzig Jahre alte Tanne, sie beschützt unser Haus.
Zum Wald sind es nur ein paar Minuten zu Fuß, dort sammle ich oft Pilze. Man findet Steinpilze, Rotkappen, Birkenpilze, Riesenschirmlinge und meinen Lieblingspilz: den flockenstieligen Hexen-Röhrling. Den halten die meisten wegen seines orangefarbenen Fußes für giftig, lassen ihn stehen. So landet er in meinem Korb! Das Wissen über Pilze habe ich mir aus Büchern und Videos angeeignet. Es gibt Leute, die schauen Serien, ich gucke YouTube-Clips über Pilzsorten. Ich liebe ihre Farbenpracht, sie sind schön wie Blumen. Im Wald fühle ich mich zuhause. Schon als Kind in Russland war ich immer draußen, mitten im Nirgendwo, sammelte Beeren, Pilze oder Kräuter. Mein Vater ging jagen und fischen. Es gab in den Läden damals nicht viel zu kaufen. Wir nahmen dankend alles an, was die Natur uns bot. Das russische Wort für Wald ist »les« – es steckt also schon in meinem Namen: Olesya. Es gibt eine Geschichte von Nikolai Leskow, die so heißt wie ich. Er erzählt von einem Mädchen, das mit seiner Großmutter im Wald lebt, sich mit Pflanzen auskennt und mit Tieren spricht. Die Leute halten sie für eine Hexe und vertreiben sie aus ihrer Hütte.
Die Figur der Hexe begleitet mich. Zuletzt haben ich an der Deutschen Oper Berlin in LA FIAMMA die Silvana gesungen, sie endet auf dem Scheiterhaufen. Auch Els in Franz Schrekers DER SCHÄTZGRÄBER wird als Hexe beschimpft. Ich springe für eine Kollegin ein, habe nicht viel Zeit, um einen so großen Part zu lernen! Aber Druck gehört zu meinem Beruf. Einmal bin ich am Tag der Premiere von RIGOLETTO an der Deutschen Oper Berlin für eine erkrankte Gilda eingesprungen. Ich kam gegen 14 Uhr aus der Kirche, schaltete mein Handy ein und hatte die Frage auf der Mailbox, ob ich um 18 Uhr auf der Bühne stehen könnte? Ich fuhr zum Flughafen und landete eine Stunde vor Vorstellungsbeginn in Berlin. Dem Regisseur Jan Bosse sagte ich: Keine Sorge, ich kann alles szenisch spielen. Er dachte, ich sei verrückt, ich kannte ja seine Inszenierung gar nicht. Na gut, dann sang ich Gilda eben von der Seite ein, ohne Noten, denn die Partie hatte ich noch frisch drauf. Es war ein großer Erfolg.
Die Els muss ich mir ganz neu aneignen. Obwohl Els Männer umbringen lässt, versuche ich, ihre Motive zu verstehen und ihre Situation nachzuvollziehen. Sie flieht vor einem schrecklichen Schicksal: Ihr Vater will sie mit einem Mann verheiraten, den sie verabscheut. »Er wird mit seinen derben Fäusten mein zartes, weißes Körperchen zerbrechen«, klagt sie, träumt von einem Märchenprinzen, will eine Prinzessin werden. Daher hat sie es auf den Schmuck der Königin abgesehen, nicht aus Gier, sondern weil sie denkt: Wenn sie das Gold hat, wird sie schön sein.
In ihren Träumen führt der Prinz sie auf einem weißen Ross in ein Schloss. Das ist naiv, aber auch traurig, denn der Traum geht nie in Erfüllung. Den Prinzen sieht Els in dem Sänger Elis. Er ist groß, hat blaue Augen, ist Künstler und Poet. Sie ist fasziniert von seinen Geschichten, möchte ein Teil davon werden, am liebsten in seine Märchen schlüpfen und so ihrem Unglück entkommen. Zu Beginn des dritten Aufzugs singt Els das Wiegenlied, das ihre Mutter für sie gesungen hat, auch ein Märchen. Es geht um ein Mädchen, dessen Vater gestorben ist, einst ein mächtiger Graf, der in einem fremden Land ums Leben gekommen ist. Eine berührende Geschichte über Liebe und Verlust.
Als Kind im Wald fühlte ich mich selbst wie im Märchen. Alles war geheimnisvoll, ich begegnete Tieren, fand verlassene Lager und Nester. Auch heute noch zieht es mich ins Unterholz, abseits des Wegs, wo Feuersalamander, Schlangen, Frösche und Rehe sich herumtreiben. Ich lausche den Vögeln, manchmal singe ich. Wenn mich jemand sehen würde, wie ich durch den Wald streife, singend, mit einem Pilzmesser in der Hand – man könnte mich glatt für eine Hexe halten.