Spannung und Fluss in Giordanos „Fedora“ - Deutsche Oper Berlin
Spannung und Fluss in Giordanos „Fedora“
Dirigent John Fiore im Gespräch mit Dramaturg Konstantin Parnian
Konstantin Parnian: Umberto Giordano wird gerne als typischer Verismo-Komponist bezeichnet. Woran lässt sich das festmachen? Was unterscheidet ihn vielleicht auch von Zeitgenossen?
John Fiore: Giordanos Opern gleichen Konversationsstücken und sind damit sehr nah am Sprechtheater. Das trifft auf FEDORA in besonderem Maße zu. Verglichen etwa mit den Opern Puccinis gibt es hier keine wirklichen Arien – selbst das berühmte „Amor ti vieta“ dauert nicht viel länger als eine Minute und ist damit allenfalls eine Arietta, eine stark verknappte Form. Ebenso verhält es sich mit der Eröffnungsnummer Fedoras „Rigida è assai la sera“, in der sie erstmals die Gemächer ihres Verlobten Wladimiro betritt. Diese solistischen Passagen sind sehr kurz gehalten, so wie Giordano überhaupt äußerst konzentrierte Bausteine für seine musikalische Konstruktion verwendet. An manchen Stellen wünscht man sich fast, dass er einzelne Gedanken länger ausarbeitet, aber entsprechend der Ästhetik des Verismo hält er sich folgerichtig an das Primat des szenischen Kontexts.
Muss man wegen dieser Kurzatmigkeit als Dirigent besonders darauf achten, dass sich ein geschlossenes Werk ergibt?
Das Wichtigste ist, den musikalischen Fluss zu wahren, um die Spannung zu erhalten. Grundsätzlich ist FEDORA sehr stringent durchkomponiert, sogar noch konsequenter als andere Opern Giordanos wie der zwei Jahre zuvor entstandene ANDREA CHENIER, in dem es eher noch Arien-artige Nummern gibt, bei denen die Figuren eine seelische Entwicklung durchmachen. Die Solopassagen in FEDORA hingegen treiben meist entweder die Handlung voran oder sie erfüllen eine deskriptive Funktion. Außerdem sind sie geprägt von einer eindeutigen Stimmung und verhandeln dementsprechend ein spezifisches musikalisches Thema. Überhaupt spielt die motivisch-thematische Arbeit im ganzen Werk eine große Rolle. Auch wenn man Giordanos Verfahren nur bedingt mit Wagners Leitmotivtechnik vergleichen kann, werden hier bestimmte Gedanken oder Gegenstände mit Motiven verknüpft, so etwa Fedoras Kreuz. Das lässt viele Assoziationen zu: Wenn das Motiv, das bei der ersten Erwähnung des Kreuzes erklingt, später nach Loris’ Schilderung von Wladimiros Untreue wiederkehrt, könnte eine Lesart sein, dass Fedora nachträglich in den Mord an ihrem Verlobten einwilligt, da im Kreuz schließlich das Gift steckt, Fedoras eigene tödliche Waffe. Andererseits könnte man das auch so interpretieren, dass Loris, im Ungewissen über die Lage, eine Rache gegen ihn fürchtet. Dafür, dass das Kreuz-Motiv für Rache stehen kann, spricht auch sein subtiles Erklingen im Pianissimo, als Fedora den Brief verfasst, der Loris ans Messer liefern soll. Im tragischen Finale, wenn Fedora sich das Leben nimmt, ertönt das Motiv schließlich schicksalhaft im Fortissimo. Durch derartige motivische Beziehungen entfaltet sich ein vieldeutiges Geflecht, das die Psychologie der Figuren schärft, ohne dabei eindeutige Zuschreibungen zu treffen.
Eines der Stilmittel Giordanos ist also diese kompakte musikalische Sprache, die, entsprechend der Forderung des Verismo, ganz den Fokus auf das Handlungsgeschehen legt. Wie ist dazu im Verhältnis die festliche Szenerie im zweiten Akt einzuordnen? Dort macht sich etwa der französische Diplomat De Siriex einen Spaß daraus, ein Klischeebild russischer Frauen zu besingen.
Der zweite Akt auf dem Empfang Fedoras beginnt schon mit einem Walzervorspiel – hier nimmt sich Giordano etwas Raum für musikalische Entwicklung, jedoch nie mehr, als die Szene verlangt. Wenn etwa Olga den Pianisten Lazinski vorstellt, erklingt für ein paar Takte eine Musik, die Potenzial hätte, weiter ausgebaut zu werden. Just aber wird diese von De Siriex’ erwähnter Einlage über die russischen Frauen unterbrochen, welcher mehr Platz eingeräumt wird, da De Siriex der anwesenden Gesellschaft etwas präsentiert. Das wiederum erwidert Olga, indem sie ein Lied über die Eigentümlichkeiten der Pariser Männer anstimmt, das ähnlich einem Rondo geschrieben ist. Obwohl auf musikalische Gattungstraditionen Bezug genommen wird, bleibt das szenische Geschehen stets die Antriebsfeder: Alles erfolgt im Schlagabtausch als jeweilige Reaktion auf das Vorhergehende. Schließlich setzt sich der als polnischer Klaviervirtuose vorgestellte Lazinski an den Flügel und spielt ein Nocturne im Stile Chopins – nicht als losgelöstes Intermezzo, sondern integriert in die Szene und aus dieser heraus motiviert. Giordano imitiert sehr versiert eine spezielle Art von Musik, um ein Salonkonzert zu imaginieren, an dessen Rande sich Fedora und Loris unterhalten.
Giordano verhandelt also Musik als Teil des echten Lebens, nicht nur als abstrakte Ebene oder dekoratives Element. Deshalb verkörpert der Pianist, der als Bühnenmusiker auftritt, sogar eine richtige Rolle. Dieses Spiel mit musikalischen Zitaten, die aus der Lebenswelt gegriffen wirken, ist auch ein typisches Element des Verismo. Im dritten Akt in der Schweiz begegnen uns ebenso klangliche Anspielungen.
Dort wird mit einer markanten Eröffnung der Hörner, mit verspielten Figuren in den Flöten und Piccoloflöten sowie mit Chorgesängen der Bäuerinnen ein musikalisches Alpenpanorama heraufbeschworen. Das Bild eines heiteren Schweizer Idylls baut sich auf, was mir, der ich selbst in Genf wohne, beim Dirigieren eine besondere Freude bereitet. Vor der tragischen Wendung zum Schluss der Oper eröffnet sich so eine vollkommen unschuldige Szenerie: Loris und Fedora genießen ihre Zweisamkeit, während sich Olga in der Abgeschiedenheit langweilt, ehe sie von De Siriex aufgemuntert wird, der die drei mit dem Fahrrad besucht. Dabei illustriert die Musik liebevoll seine Beschreibung der kleinen Fahrradtour. Diese Schweizer Episode ist auch einer der Unterschiede zum Drama „Fédora“ von Victorien Sardou, in dem Paris ab dem zweiten Akt nicht mehr verlassen wird.
Über Sardous „Fédora“ waren wir im Vorfeld der Produktion im Austausch. Natürlich mussten Giordano und sein Librettist Arturo Colautti den Text stark zusammenkürzen, um ihn für die Opernbühne tauglich zu machen. Wie wirkt sich die Auseinandersetzung mit der Dramenvorlage auf die Arbeit an der Oper aus?
Einige Aspekte, die in der Oper nur am Rande Erwähnung finden, werden im Drama viel weiter ausgeführt. Bei Giordano entgeht einem manches, wenn man nicht ganz aufmerksam dabeibleibt. Zum Beispiel wird nur in einem Halbsatz gesagt, dass der zu Beginn umgekommene Wladimiro der Sohn des Polizeichefs Jariskin ist. Dabei begründet dieses Faktum, warum sich Loris, trotz seiner Unschuld, nach dem Schusswechsel nicht stellen konnte – weil er eben nicht den Zorn von Wladimiros Vater riskieren wollte. Zumal der alte Jariskin, wie De Siriex beschreibt, nach dem Tod seines Sohnes noch brutaler geworden ist, aber auch das wird nur kurz erwähnt. Dass Informationen wie diese der enormen Verdichtung im Zuge der Adaption des Schauspieltextes zum Opfer gefallen sind und wir sie als Publikum der Oper nur beiläufig erfahren, ist vollkommen nachvollziehbar, denn diese macht den Sog des Werkes aus. Für die Rollengestaltung und die Gesamtinterpretation sind sie aber enorm wertvoll. Das gilt natürlich in erster Linie für die Regie, aber da sich bei Giordano Musik und Szene kaum unabhängig voneinander denken lassen, ist es für alle Seiten besonders wichtig, den Stoff so genau wie möglich verinnerlicht zu haben.