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Tod durch Erkenntnis - Deutsche Oper Berlin

Tod durch Erkenntnis

Regisseur Tobias Kratzer im Gespräch mit Sebastian Hanusa

Ein Kunstwerk sollte sich von seinem Autor und dessen persönlichen Lebensumständen, die seine Entstehung motiviert haben könnten, emanzipieren und weit darüber hinaus in ein Überindividuelles, Allgemeines verweisen. Dieser grundlegenden Annahme stehen bei Alexander von Zemlinskys DER ZWERG die offenkundigen Parallele zum Leben des Komponisten entgegen, die, oberflächig betrachtet, eine Interpretation der Oper als autobiographisches Selbstportrait nahelegen. Wie sehen Sie das Verhältnis von Leben und Werk im Falle des ZWERG?
Das sind ja nicht zwei unterschiedliche Instanzen. Selbst Biographien entstehen ja später, in Kenntnis des Werkes. Deswegen habe ich oft ein Problem, ein Stück allein auf die Lebensgeschichte eines Komponisten zu beziehen. Diese kann mitinformieren. Sie aber als alleinigen Schlüssel anzusehen, habe ich bisher in keiner meiner Inszenierungen gemacht. Und ich habe es auch anderswo nie als wirklich produktiv empfunden. Bei Zemlinsky finde ich es eher interessant, dass das Stück durch seine biographischen Erfahrungen an Offenheit gewinnt.

In der zu Grunde liegenden Novelle von Oscar Wilde ist der Zwerg erst einmal eine Figur des Andersseins. Und zufällig ist er, letztlich als Metapher hierfür, ein Zwerg. Bei Zemlinsky kommt jetzt aber die persönliche Erfahrung hinzu. Man weiß, dass er sehr klein gewachsen war, je nach Quelle 1,56 oder 1,58 Meter, und auch Zeit seines Lebens damit gehadert hat. Und so hat man hat das Gefühl, Zemlinsky nimmt diese Metapher des Zwerges wörtlich. Damit durchdringen sich zwei verschiedene Ebenen: Eine Metapher für das Anderssein an sich bei Oscar Wilde und eine sehr konkrete Thematisierung von buchstäblich „zu kurz gekommen“ bei Zemlinsky. Hinzu kommt, dass Zemlinsky aus diesem Zwerg einen Sänger macht, einen Musiker, womit er natürlich viel stärker an seine persönliche Erfahrungswelt andockt. Das finde ich biographisch erst einmal das Entscheidende. Also nicht so sehr, dass eine Figur eindeutig Zemlinsky zuzuordnen ist, das würde ich in dieser Ausschließlichkeit weder sagen noch inszenieren, sondern die Tatsache, dass durch biographische Erfahrungen noch einmal ein ganz anderer Zugang aufgesprengt wird.

Wobei gerade der Autor des Librettos Georg C. Klaren, der knapp dreißig Jahre jünger war als Zemlinsky und zur Entstehung des Librettos gerade mal Anfang Zwanzig, offensichtlich versucht hat, eine „Psychoanalyse“ Zemlinskys in seinen Text einzuschreiben. Wobei nicht mehr nachvollziehbar ist, inwieweit dies dem Komponisten bewusst war …
Zumindest ist auffallend, dass Zemlinsky sich immer wieder Libretti gesucht hat, die eine Art von verwundeter Männlichkeit zum Thema haben. Das ist auch in der FLORENTINISCHEN TRAGÖDIE so, in der es um einen Ehemann geht, der von seiner Frau hintergangen wird und dann den Kampf mit seinem Nebenbuhler aufnehmen muss. Fast schon ein Topos zu diesem Thema ist in der Zemlinsky-Biographik seine Affäre mit Alma Schindler, der späteren Alma Mahler-Gropius-Werfel. Diese wurde von ihrer Seite aus sehr schmutzig beendet und hat bei ihm sehr große Wunden und Traumata hinterlassen, von denen man das Gefühl hat, dass sie in Zemlinskys Stücken noch einmal durchgearbeitet werden. Es gibt daher sicherlich einen ursächlichen Zusammenhang zur Stückwahl.

Aber dann gibt es, was ich fast noch interessanter finde, eine ähnliche Verwundung dieses Komponisten, der sich so wenig über seinen Stand in der Musikgeschichte sicher ist. Für die Avantgarde ist er ab einem gewissen Punkt zu konservativ, für einen aufrechten 19. Jahrhundert-Verfechter aber schon viel zu sehr einer, um es in den Worten der Zeit zu sagen, „Dekadenzmusik“ angehörig. Und daraus resultiert eine Situation, die eine permanente Suche nach der eigenen Position, auch nach dem eigenen Status mit sich bringt. Ich glaube, dass beide Erfahrungen in das Stück mit eingeflossen sind. Das unterscheidet den ZWERG zum Beispiel von der FLORENTINISCHEN TRAGÖDIE. Die FLORENTINISCHE TRAGÖDIE ist ein Ehedrama, das als reine Beziehungstragödie sehr gut lesbar ist. Der ZWERG aber ist zugleich auch eine ästhetische Zustandsbestimmung von Zemlinsky.

DER ZWERG wird an der Deutschen Oper Berlin nicht als Teil eines Doppelabends zusammen mit einem zweiten Einakter gespielt. Was haben Sie stattdessen gemacht?
Das Stück als Einzelwerk zu spielen war zunächst Wunsch des Hauses. Ich war erst irritiert, fand diese Entscheidung aber auf den zweiten Blick sehr konsequent, da es doch ein völlig konsistentes, in sich geschlossenes Meisterwerk ist. Ich hatte aber dann das Gefühl, dass man dem Stück eine Art Prolog vorausstellen könnte, gerade um seinen Eigenwert noch mehr auszustellen. Mein Vorschlag war dann, Arnold Schönbergs „Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene“ von 1929 zu verwenden. Es war zunächst eine rein musikalische Idee, da ich das Gefühl hatte, man würde Zemlinsky anders hören, wenn man Schönberg davor spielt. Im Konzeptionsprozess hat sich dann gezeigt, dass man den Schönberg szenisch wohl am stärksten an den ZWERG anbinden kann, wenn man gar nicht erst versucht, die beiden Werke künstlich zu verschmelzen. Auch wenn ihnen grundsätzlich sogar ein ähnliches Programm zugrunde liegt: „Drohende Gefahr – Angst – Katastrophe“ heißt es bei Schönberg. Das könnte eigentlich auch der Untertitel des ZWERGES sein.

Die eigentliche musiktheatrale Konstellation habe ich dann aus dem sehr prominenten Klavierpart entwickelt, den es bei Schönberg gibt. Dieser Part wird bei uns auf zwei Spieler aufgeteilt, die wir auf der Bühne zeigen und die dort eine Situation erzählen, die so historisch nachweisbar ist: Musikunterricht von Alma Schindler bei Zemlinsky. Aus dieser Situation heraus entspinnt sich dann, komprimiert auf zehn Minuten, ein Beziehungsdrama, das dem ZWERG vorangestellt wird und so etwas wie ein Grundtrauma schildert, das ihm zu Grunde liegt. Es geht mir dabei aber nicht so sehr um Ursache und Wirkung. In der Wissenschaftstheorie gibt es das Konzept von Anlass und Rechtfertigung. „Anlass“ ist der, manchmal auch sehr zufällige, Auslöser für die Entdeckung einer Theorie; „Rechtfertigung“ dann der Beweis ihrer objektiven Gültigkeit oder immanenten Stimmigkeit – über diesen Anlass hinaus. So sehe ich auch die beiden Teile des Abends.

Zur „Rechtfertigung“ des Zwerges: Welche Themen sehen Sie im ZWERG über eine wie auch immer autobiographisch motivierte „Tragödie des kleinen Mannes“ hinausgehend verhandelt?
Man kann das Stück als Gesellschaftskritik einer sehr oberflächlichen Gesellschaft lesen: So wie anfangs der Damenchor geschildert ist, wie die Infantin sich von ihrem Umfeld permanent ihre eigene Schönheit versichern lässt, das hat schon viel von einer heutigen Instagram-Kultur an sich, wo man um jeden Like buhlt. Man kann es als ein Künstlerdrama lesen, das einen Sänger zeigt der sich mit dem fast wie eine „mise en abyme“ fungierenden „Lied von der blutenden Orange“ vorstellt und mit seiner Kunst in der Gesellschaft scheitert. Und man kann es lesen als einen eigentlich jeden Menschen unabhängig von Größe, Aussehen und Alter betreffenden Entwurf zur Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild: Bei fast allen Figuren im Stück klafft weit auseinander, wie sie wahrgenommen werden wollen, wie sie denken, wahrgenommen zu werden – und wie die anderen sie wirklich wahrnehmen. Diese Art von „schizophrenem Riss“ ist natürlich bei der Figur des Zwerges am extremsten. Aber sein tragisches Schicksal ist zugleich Metapher für ein sehr vertrautes Phänomen. Ich denke, jeder kennt Eigenschaften an sich – äußere oder innere – denen wir nicht ins Auge blicken wollen. Und je mehr man sie von sich weghält, umso größer ist der Schock der Erkenntnis, wenn man diesen Selbstbetrug nicht mehr durchziehen kann.

Eine Herausforderung an jeden Regisseur ist die Figur des Zwerges und die Frage, wie man diesen auf die Bühne bringt.
Ich hatte mich schon sehr früh dagegen entschieden, die Partie mit einem besonders klein gewachsenen Tenor zu besetzen, den man gegebenenfalls noch auf hässlich schminkt. Zugleich wollte ich auch nicht die Gegenthese aufstellen, dass es nur darum geht, was jemandem zugeschrieben wird, und das „Zwergenhafte“ vollständig verinnerlichen. Ich habe mich dann entschieden, diesen Konflikt zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbild der Figur durch zwei Figuren auf die Bühne zu bringen. Zum einen wird die Titelrolle von einem Tenor verkörpert, bei dessen Besetzung einzig auf Präsenz und musikalische Qualität geschaut wurde. Und zum anderen von einem kleinwüchsigen Schauspieler.

Anfangs ist es so, dass der Sänger den Schauspieler lediglich synchronisiert. Im Verlauf des Stückes geraten diese beiden Figuren aber zunehmend miteinander in Konflikt. Sie sind nicht mehr deckungsgleich, nicht mehr Körper plus Stimme, sondern zwei Körper, die miteinander und teilweise auch gegeneinander agieren. Und das war für mich der Weg, diese im Inneren des Zwergs angesiedelte Konfliktsituation theatral werden zu lassen. Wobei interessant ist, dass diese vordergründig eindeutige Zuordnung Sänger = Eigenwahrnehmung und Darsteller = Fremdwahrnehmung gar nicht so eindeutig ist. Es gibt zum Beispiel eine Szene, in der der Sänger ganz allein vor dem Spiegel steht und je nachdem, mit welcher Haltung er auf sein Spiegelbild blickt, findet er sich schön und geliebt oder aber er hadert mich sich und empfindet sich als „zwergenhaft“.

Bemerkenswert erscheint mir, dass im Libretto behauptet wird, der Zwerg habe sich nie im Spiegel wahrgenommen, sein „Lied von der blutenden Orange“ ist aber zugleich in gedrängter Form eine Zusammenfassung seines Schicksals.
Ich denke auch, dass dem Zwerg bewusst oder unbewusst, letztlich klar ist, wie die anderen ihn sehen. Er bringt das nur nicht direkt zum Ausdruck. Er transformiert es in Kunst, in ein Lied, das alles über seine Existenz und sein Wesen verrät. Und nach diesem Lied sieht man die Naivität, mit der sich der Zwerg handelnd im Stück bewegt, mit anderen Augen und man hat das Gefühl, dass hier ein Mensch eine bittere Wahrheit sehr aktiv von sich fernhält. Dadurch wird auch diese Figur sehr doppelbödig, ohne dadurch aber an Tragik einzubüßen.

Mit welchen Mitteln wird das Künstlerdrama bei Ihnen erzählt?
Sehr stark über den Raum. Dieser ist einerseits sehr konkret. Es könnte eine Art privater Kammermusiksaal des Königs sein, in dem anlässlich der Geburtstagsfeier seiner Tochter, der Infantin, Musik geboten wird. Gleichzeitig ist der Raum in seiner weißen Farbigkeit und den Komponistenbüsten, die da an den Wänden sind, abstrakt überhöht zu so eine Art „privater Elbphilharmonie“. Damit ist der Raum ein abstrakter Schauplatz, an dem sich Kunst ereignet und der jeden, der sich darin bewegt, automatisch in ein Verhältnis zur Kunst setzt.

Die Freundinnen der Infantin nehmen diesen Saal nicht wirklich ernst, spielen mit den Instrumenten, wackeln auf den Stühlen herum und halten die Pulte nicht in Ordnung. Ein Alptraum für einen Musiker! Für den Zwerg hingegen ist der Raum fast heilig und er freut sich, dass er dort ein großes Orchester dirigieren kann. Dadurch wird dieser Saal zu einer Metapher für den Künstlerstatus des Zwerges. Ob er akzeptiert wird, ob er bejubelt wird und ob er überhaupt als Künstler ernst genommen wird. Oder ob das Ganze plötzlich in einen Alptraum kippt von Figuren, die sagen: Du kannst nichts, du bist nichts, und was du willst, wollen wir nicht.

Und wie sehen die Figuren so aus?
Das ist ja die zentrale Frage des Stückes! Aber es betrifft natürlich auch konkret das Kostüm: Hier gibt es zwischen Schönberg und Zemlinsky einen deutlichen Bruch. Den Schönberg, den man ja gemeinhin als die modernere und auch wieder widerständigere und heutigere Musik ansehen würde, bebildern wir historisch akkurat, also im Stile des frühen 20. Jahrhunderts. Damit hört man die Schönberg’sche Musik vielleicht irgendwie anders, mit einer Art Wiener Melos.

Umgekehrt dazu versuchen wir den ZWERG nicht zu farbenreich und dekadent auszustatten. Das Stück selbst ist ja in ständigem synästhetischen Aufruhr, evoziert Texturen, Farben, schillernde Effekten – im Libretto wie im Orchester. Das versuchen wir nicht zu doppeln, sondern eher eine Folie zu schaffen, vor der diese Musik in ihrem klanglichen Farbenreichtum hoffentlich noch stärker wirkt. Deshalb ist der ZWERG etwas zurückgehaltener, heutiger bebildert.

Wie würden Sie die zweite Hauptfigur des Stückes, die Infantin, charakterisieren?
Eigentlich ist die Infantin die zweite tragische Gestalt des Stückes. Dem Werk wird ja auch oft eine Art von Misogynie vorgeworfen. Ich finde aber, dass die Infantin keine Figur ist, die in bloßer Kaltherzigkeit den Zwerg ruiniert. Das ist sie natürlich an der Oberfläche. Aber gleichzeitig sehen wir, wie stark sie eingebunden ist in ein Netz von Erwartungen seitens ihrer Freundinnen. Vom ersten Moment an wird sie als die Schönste überhaupt besungen und es gibt diese Erwartungshaltung, dass sie mit Contenance und Schönheit im Zentrum dieser Gesellschaft steht. Doch dann merken wir, wie sehr sie gerade in ihrem ersten Duett mit dem Zwerg von ihm angerührt ist. Man hat das Gefühl, dass sie ein bisschen von sich selbst in ihm zu erkennen scheint. Und sie ist über sich selbst erstaunt, dass sie plötzlich ausgerechnet bei ihm emotional andocken könnte. Da gibt es plötzlich eine Art Annäherung – und dann wieder Schockmomente, in denen die Infantin abbricht. Da merkt man, dass sie eine kalte Maske vorschiebt, weil sie nie gelernt hat, sich verletzlich zu zeigen. Das ist für mich einer der anrührendsten Momente in dem Stück.

Und dann gibt es mit Ghita noch eine zweite Frauenfigur im Stück …
Letztlich delegiert die Infantin die Drecksarbeit an ihre Zofe Ghita, die dem Zwerg die Wahrheit sagen soll. Und Ghita ist vollständig damit überfordert. Sie steckt in einem moralischen Konflikt, den wir alle kennen. Es ist die Frage, ob es wirklich zum Besten des Anderen ist, die Wahrheit immer aufzudecken. Man kennt genügend Situationen aus dem Alltag, wo man das Gefühl hat: Wenn man etwas verschweigt, ist es für das Gegenüber mitunter besser. Man macht sich zwar einer Unterlassung schuldig, aber trotzdem ist das Leben des anderen manchmal glücklicher, wenn der nicht alles weiß. Das ist der Konflikt, in den Ghita gerät. Und auch bei ihr finde ich die interessanteste Frage, wie sie damit umgeht. Am Anfang ist die Figur von einem Mitleids- wie Wahrheitsfuror gleichermaßen getrieben. Aber in dem Moment, wo diese beiden Prinzipien in Konflikt miteinander geraten, verzweifelt sie vollständig daran. Und als sie sich dann überwindet, gelingt es ihr nicht, dem Zwerg die Wahrheit rhetorisch elegant zu servieren. Sie knallt ihm den Vorwurf der Hässlichkeit vor die Stirn, wodurch er ihn natürlich auch nicht annehmen kann – und muss dann feststellen, dass sie keine Mittel hat, die bittere Wahrheit in einer Form zu vermitteln, die schonend oder konstruktiv wäre. Und daran scheitert sie. Das ist auch das, was das Stück zu einer großen Tragödie macht.

Es ist eine Tragödie, die alle drei Figuren betrifft. Die Infantin, die nicht aus ihrer emotionalen Verkrustung herauskommt. Ghita, die in einen eigentlich unlösbaren moralischen Konflikt gerät. Und der Zwerg, der vom ersten Moment an darunter leidet, dass er einen Teil von sich gleichsam abgespalten hat. Und der in dem Moment stirbt, als er mit dieser Wahrheit konfrontiert wird. Wobei es interessant ist: Die eigentliche Todesursache des Zwerges wird im Libretto nicht weiter spezifiziert. Der Zwerg stirbt letztlich an Erkenntnis der Wahrheit. Und das ist natürlich philosophisch eine immense These. Das in dem Moment, in dem die Wahrheit erkannt ist, der Tod sofort eintritt.

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