Vier Blicke auf ein Ich - Deutsche Oper Berlin
Vier Blicke auf ein Ich
Vier Stimmen für eine Figur: Ihre erste Oper LASH hat Rebecca Saunders vier Interpretinnen auf den Leib komponiert. So entsteht ein Porträt, das ebenso von einer Frau erzählt wie von denen, die sie verkörpern
Anna Prohaska Ich wohne wie Rebecca in Berlin. Also haben wir uns zu Beginn mehrmals in ihrer wunderschönen Wohnung getroffen und dort ausprobiert, richtig improvisiert. Sie fragte, was ich mit meiner Stimme Außergewöhnliches kann. Ich sagte: Ich kann rückwärts singen, also einatmend, ich kann gut pfeifen und ich kann jodeln. Außerdem liebe ich Barockmusik. Und nun ist meine Partie tatsächlich ein Kaleidoskop aus Monteverditrillern, Jodlern und experimentellen Gesangstechniken. In dieser Hinsicht bewegt sich Rebecca ganz in der Tradition der großen Komponisten wie Mozart oder Verdi, die ihre Partien bestimmten Sängern auf den Leib schrieben. Unsere Initialen stehen sogar als Chiffren für die Rollen, meine heißt A. Wir sind aber nicht vier Protagonistinnen, sondern das Prisma einer einzigen Figur. Die Musik beleuchtet dieses von allen Seiten; wir emittieren die Farben, Schattierungen und Facetten einer Persönlichkeit. Unsere (Sprach-)Melodien sind unglaublich fein gearbeitet, detailverliebt bis in die Dynamik. Und trotz aller Komplexität bleiben sie eine Sprache des Körpers. Eine Musik, die atmet, zittert, lebt.

Sarah Maria Sun Als ich die Noten bekam, hat es mich völlig von den Socken gehauen. Rebecca hat Sachen erfunden, die ich noch nie irgendwo gesehen, gehört oder gelesen habe. Und mein Repertoire ist nicht gerade klein, bestimmt 2.000 Stücke aus dem 20. Und 21. Jahrhundert. Die Protagonistin teilt sich in vier Sängerinnen auf und jede Figur hat eine eigene vokale Ausdrucksweise. Es gibt monologische Stellen, also Arien, und Austausch in Duetten und Trios, teilweise auch chorisches Kommentieren im Quartett. Das Libretto erzählt keine lineare Geschichte, die Texte handeln von Sinnlichkeit, Erotik, Körper, Intimität, Hierarchie, Sex. Einer der vielen tollen Aspekte an Rebeccas Oper ist, dass diese Dinge nicht semantisch oder über eine Story erklärt werden, sondern dass ihre Musik eine sinnliche (Selbst-)wahrnehmung im Klang kreiert. Da geben sich für uns Musikerinnen also Form und Inhalt die Hand. LASH wird Musik sein, die wir alle noch nie gesungen oder auch nur annähernd gehört haben. Es wird ein Trip: sinnlich, kritisch, amüsant. Das sollte man auf keinen Fall verpassen.

Noa Frenkel Jede neue Partie beginnt in meinem Körper. Ich will die Musik physisch spüren – jede Silbe, jeden Klang. Rebeccas Musik will nicht nur gesungen, sondern auch gelebt werden: Ich werde flüstern, stottern, atmen, singen. Es gibt in meiner Partie eine Arie namens »Longing«, voller Seufzer, voller Wollen und Nicht-sagen-Können. Meine Facette der Protagonistin steht für diese tiefe, körperlich empfundene Sehnsucht. Rebecca und ich haben uns im Vorfeld in ihrer Berliner Wohnung getroffen, haben improvisiert, ausprobiert, gesprochen und gelacht. Sie machte sich Notizen, testete Ideen, fragte mich, was ich kann. Und dann sagte sie etwas, das kein Komponist je zu mir gesagt hat: »Wenn du Stellen findest, an denen du eine Pause brauchst, dann sag es mir.« Ich bin eigentlich jemand, der mit neuer Musik ringt, so lange übt, bis etwas sitzt, wie ein Ninja. Rebecca aber komponiert vom Menschen aus, beginnt bei der Stimme, bei dem, was jemand kann. Als ich die Partitur bekam, dachte ich: Wahnsinn, wie gut mich diese Frau kennt. Und wie wunderschön diese Gesangslinien sind.

Katja Kolm Ich bin Schauspielerin, mein Zugang zur Rolle beginnt mit dem Text. Bei LASH war das gar nicht so einfach. Das englische Libretto ist poetisch abstrakt. Noch bevor ich mit der Arbeit an der Oper anfing, habe ich mir eine englische Schauspielerin gesucht, um mich überhaupt erst einmal einigermaßen fit für die englische Sprache zu machen. Wir haben Zungenbrecher trainiert, jeden Tag. Später habe ich Satz für Satz das Libretto durchgearbeitet, um dem Text einen Sinn zu geben – meinen eigenen. LASH erzählt von einer Frau, die sich aufspaltet, in vier Stimmen, vier Persönlichkeiten, die sich quasi in einem psychologischen Ausnahmezustand befindet. Es geht um Schmerz, um das Unaussprechliche. Rebecca komponiert unglaublich präzise. Wenn ich ihre Partitur studiere, kann ich in jedem Moment genau erkennen, was sie inhaltlich ausdrücken wollte. Es ist wie bei Goethe, wenn man seine Verse im vorgegebenen Rhythmus spricht, zeigt sich deutlicher, worauf es ihm ankam. Genau das fasziniert mich: Ich verinnerliche Rebeccas Klang, versuche für mich eine psychologische Motivation zu finden, damit daraus Sprache wird. Und ich verinnerliche die Sprache, damit am Ende ein lebendiger Mensch entsteht.
